Unterscheidung: Wie macht man das?

"In der Mitte der zwei, im Zwischen von Welt und Ding,
in ihrem inter, in diesem Unter- waltet der Schied
"
(Heidegger, Unterwegs zur Sprache)

Eine der - oder die? - grundlegendsten Konstituenten des Lebens und der Welt ist die Unterscheidung - oder die Einheit? - von Einheit und Unterscheidung.

  • Jede Einheit kann nur Einheit sein, wenn sie sich von etwas anderem unterscheidet -
  • aber jede Unterscheidung kann nur etwas unterscheiden, was ihr als Einheit, also als nicht-unterschiedenes zugrundeliegt.

Das ist ein Zirkel: Einheit setzt Unterscheidung voraus und Unterscheidung setzt Einheit voraus - ohne Henne keine Ei und ohne Ei keine Henne. Was wir suchen ist das Huhn, welches das Ei legt, aus dem es eben geschlüpft ist. Versuchen wir das Rätsel zu lösen.

Was unterscheidet ein Unterschied? Wenn wir voraussetzungslos - so weit das halt geht - anfangen, dann gibt es nichts, das unterschieden werden könnte. Um das zu verdeutlichen, wählen wir den Begriff "Unterscheidung", denn dieser kann sowohl die Tätigkeit des Unterscheidens als auch das Unterschiedene bezeichnen. Fangen wir mit der reinen Unterscheidung an, dann muß die Unterscheidung

  • sowohl das was sie unterscheidet, nennen wir es den Raum der Unterscheidung, also den Raum, in den die Unterscheidung eingeschrieben wird und der als solcher nicht unterschiedene Einheit ist,
  • als auch die Seiten der Unterscheidung und
  • die Grenze zwischen den Seiten, selbst erzeugen.

Die Unterscheidung unterscheidet sich von sich selbst als Einheit und ist in sich selbst Unterscheidung.

Weiterhin darf die Unterscheidung sich nicht von etwas anderem als sich selbst unterscheiden, denn dann gäbe es zwei Unterschiede. Das bedeutet, daß der Raum, den die Unterscheidung erzeugt, keine Grenze haben darf. Außerdem, nähme man eine Grenze dieses Raumes an, dann müßte man den umschließenden Raum auch wieder unterscheiden, was auf einen infiniten Regreß hinauslaufen würde. Der erzeugte Raum ist also grenzenlos d.h. ohne Rand, die scheinbaren Grenzen sind Horizonte. Das kann man konsistent nur denken, wenn man annimmt, daß dieser Raum in sich geschlossen ist. Ein in sich geschlossener Raum ist endlich, sonst wäre er nicht geschlossen, und unbegrenzt, sonst wäre er nicht in sich geschlossen, und hat keine unterscheidbaren, also durch eine Grenze getrennten, Innen- und Außenseiten.

Als anschauliches Beispiel für endlich und unbegrenzt mag man an eine Kugeloberfläche denken - es gibt keine Ränder, aber irgendwann trifft man wieder auf die eigenen Fußspuren. Aber Kugeln haben eine Innen- und eine Außenseite und sind deshalb ein unbrauchbares Beispiel. Ein angemessenes Modell für einen Raum ohne Innen- und Außenseite ist ein Möbiusband, welches wir jetzt als mathematisches und anschauliches Modell benutzen werden.

Ein Möbiusband, auch Möbiusschleife genannt, ist eine zweidimensionale Struktur in der Topologie, die nur eine Kante und eine Fläche hat.

Das Objekt geht derart in sich selbst über, dass man, wenn man auf einer der scheinbar zwei Seiten beginnt, die Fläche einzufärben, zum Schluss das ganze Objekt gefärbt hat. Es wurde im Jahr 1858 unabhängig voneinander von dem Göttinger Mathematiker und Physiker Johann Benedikt Listing und dem Leipziger Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Möbius entdeckt.

Ein anschauliches Möbiusband ist leicht herzustellen, indem man einen längeren Streifen Papier an beiden Enden ringförmig zusammenklebt, ein Ende aber vor dem Zusammenkleben um 180° verdreht.

Andere interessante Effekte entstehen, wenn man auf dem Band eine Mittellinie oder zwei zur Mittellinie parallele Linien einzeichnet und das Band längs dieser Linie(n) aufschneidet. Im ersten Fall, also beim Durchschneiden entlang der Mittellinie, entsteht ein einmal verdrillter Ring. Im zweiten Fall entstehen zwei Objekte: Ein Möbiusband und ein zweifach verdrillter Ring mit zwei Seiten und zwei Rändern. Diese zwei Ringe hängen ineinander, wobei der zweifach verdrillte Ring einmal zusätzlich um das Möbiusband geschlungen ist.

Eine weitere Fläche mit nur einer Seite, allerdings ohne Ränder, ist die Kleinsche Flasche.

Das Möbiusband ist, ebenso wie die Kleinsche Flasche, eine nicht-orientierbare Mannigfaltigkeit. Man kann eine Kleinsche Flasche so in zwei Teile zerlegen, dass zwei Möbiusbänder entstehen. (aus Wikipedia: Möbiusbänder, gekürzt)

 

Das Möbiusband

  • ist endlich, denn wenn wenn man eine Seite entlangfährt kommt man irgendwann wieder beim Ausgangspunkt an.
  • ist unbegrenzt, denn man kann solange an einer Seite entlangfahren wie man will, man stößt nie auf eine Grenze.
  • hat keine unterscheidbare Innen- und Außenseite, denn wenn man einmal den ganzen Weg entlangfährt, hat man, ohne eine Grenze zu überqueren, alle Seiten begangen.

Dennoch geschieht etwas Entscheidendes: Wenn man eine beliebige zweidimensionale Form an einer Stelle des Möbiusbandes auflegt und diese Form einmal im Kreis führt, bis sie direkt gegenüber dem Ausgangspunkt ist, dann ist diese Form spiegelverkehrt geworden. Es ist also einerseits die gleiche Form wie am Anfang, aber gleichzeitig die exakt entgegengesetze Form. Im Möbiusband wird also eine Unterscheidung allein durch die Struktur des in sich geschlossenen Raumes erzeugt.

Egal wo man anfängt, das Ergebnis ist immer das gleiche: eine Unterscheidung. Die Unterscheidung ist über die gesamte kontinuierliche Fläche des Möbiusbandes verschmiert - egal ob jemand unterscheiden will oder nicht, die Unterscheidung ist da. Sie ist allgemein überall und immer, dennoch nirgendwann und nirgendwo im besonderen. Die Einheit der ununterschiedenen einen Seite ist selbst in sich die Unterscheidung - oder: die Unterscheidung ist die Einheit:

  • Die Einheit ist sich Unterschied und unterscheidet sich von sich als Einheit.
  • Der Unterschied ist sich Einheit und unterscheidet sich von sich als Unterschied.

Es ist wichtig, das festzuhalten: Ein Unterschied, der nur eine Seite unterschiede, wäre kein Unterschied sondern eine Einheit. Wir müssen also sagen: die sich-selbst-unterscheidende Unterscheidung hat genauso zwei unterschiedene Seiten wie sie auch nur eine (nicht-unterschiedene) Seite hat - sie hat weder eine noch zwei Seiten, sie hat sowohl eine als auch zwei Seiten. Sie ist sowohl die Einheit der Unterscheidung als auch die Unterscheidung der Einheit - alles zusammen, alles gleichzeitig.

Lebenspraktisch geht es hier um: "je nachdem aus welcher Perspektive man schaut". Um es bildhaft auszudrücken:

  • Wenn ich durch die Augen nach draußen schaue, dann sehe ich eine externe Umwelt oder Außenwelt und die Wissenschaft sagt mir, daß ich nicht wirklich nach draußen schaue sondern das "undifferenzierte Codierung" oder "strukturelle Kopplung" vorliegt. Das ist so sicher völlig korrekt, es ist ja Wissenschaft, aber es ist nur die eine Seite.
  • Wenn die Struktur der Unterscheidung richtig analysiert ist, dann muß es einen zweiten 'Weg' geben, bei dem Innen und Außen eins ist. Das muß wohl ein Weg sein, der nicht über die Sinnesorgane sondern über die Tiefe der Psyche geht - z.B. ähnlich den Jungschen Archetypen. Über diesen Weg komme ich in den gleichen Raum, den ich auf dem anderen Weg durch die Sinnesorgane als Außen wahrnahm. Auf dem Innenweg habe ich aber keine Grenze überschritten - und deshalb ist der vorher externe Raum, die Außenwelt, nun interner Raum, Innenwelt.

In dem mathematischen Modell des Möbiusbandes ist das deutlich dargestellt: Der Raum ist so in sich verdreht, daß die Unterscheidung durch ihre Struktur an jedem Punkt potentiell vorhanden ist. Egal an welchem Punkt man anfängt das Band entlangzulaufen, wenn man auf der entgegengesetzten Seite des Ausgangspunktes anlangt, dann ist das was (vorher "A" war "-A" geworden) da entlangläuft, spiegelverkehrt (different), geht man weiter zum Ausgangspunkt zurück ist es wieder mit dem anfänglichen identisch.

Die Philosophien und Religionen haben jedes der hier möglichen und unmöglichen Verhältnisse von Einheit und Unterscheidung aufgenommen:

  • Weltanschauungen, welche nur die Unterscheidung sehen und die Einheit leugnen, z.B. Wissenschaft.
  • Weltanschauungen, welche nur die Einheit sehen und die Unterscheidung leugnen, z.B. viele esoterische Lehren und die meisten asiatischen Religionen.
  • Das Spiel, welches Unterscheidung und Einheit in der hier aufgezeigten Einheit und Unterscheidung zeigt: Das Muster.
 

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